Urlaube, je nachdem, wie man sie gestaltet, bieten nicht immer nur Entspannung – sie bieten auch die Möglichkeit, völlig Neues zu erleben. Nicht, dass wir nicht jeden Augenblick Neues erleben könnten, doch braucht es manchmal viel, uns aus unseren bevorzugten Wahrnehmungsmustern herauszuholen. In vorgegebenen Bahnen zu funktionieren, hat etwas Ökonomisches. Die Ökonomie ist somit im weitesten Sinne eine menschliche LEIDEN-schaft. Hingebungsvoll leiden wir an dem, was wir selbst produzieren, unsere eigenen Gewohnheiten, Denk- und Erlebensmustern.
Wo ist der Zusammenhang zu Reisen? Unser Urlaub auf Kreta. Das erste Mal dort, habe ich die entspannte Atmosphäre dieser Insel schnell lieben gelernt. Auch gibt es viel zu entdecken. Neues eben, viele Orte von noch unbekannter Schönheit. Das hilft ein Stück, den eigenen Alltag hinter sich zu lassen – und damit meine ich eben die eigene Routinehaftigkeit im Handeln und Denken. Ich war zugegeben sogar etwas stolz, dass mir das in manchen Bereichen ganz gut gelungen ist. Ab und zu auf sich stolz sein tut ganz schön gut!
Jedenfalls möchten die Tage des Urlaubs – ganz im Sinne des Zurücklassen des Alltags – trotzdem irgendwie gefüllt sein. Schönheit und Entspannung möchten erlebt werden. Die ganze Tourismusindustrie baut auf dieser Tatsache auf. So ergeben sich auch hier Konzentrationen oder, anders gesagt, „Erlebensgewohnheiten“ – zum Beispiel Orte, die „jeder gesehen haben muss“, wirklich jeder, der diese Insel besucht!
Einer dieser Orte auf Kreta ist die Schlucht von Samaria, die im dazugehörigen Nationalpark liegt und zu den größten europäischen Naturwundern gezählt wird. Das System ist ausgeklügelt: Täglich kommen tatsächlich Hunderte (!) von Touristen mit Bussen und Autos zum Eingang der Schlucht auf der Hochebene von Omalos. Dort kauft man sich ein Ticket und begibt sich auf den 13 Kilometer langen Weg durch die Schlucht, 1250 Höhenmeter hinunter bis ans Meer. Stetig und tief geht es also hinab und einmal angekommen (nach 6-7 Stunden Gehzeit) wird man von einem Dorf voller Merchandising-Artikel erwartet. Weiter geht es eine Stunde mit dem Boot und danach noch 90 Minuten mit dem Bus wieder die Berge hinauf, bis man bei der Ausgangsstelle ist. Insgesamt waren wir an diesem Tag also 13 Stunden unterwegs.
Die Natur der Schlucht ist imposant, oft kamen wir aus dem Staunen nicht heraus. Doch noch etwas anderes erregte mein Aufmerksamkeit – und dies führte zu einigen Gedanken, die ich an dieser Stelle teilen möchte.
Wie bereits erwähnt, durchwandern diese Schlucht Tag für Tag Hunderte von Menschen. Und alle folgen ein und demselben Pfad – an den meisten Stellen in etwa einen bis eineinhalb Meter breit. Einer hinter dem anderen. Woanders vielleicht einengend, gab mir das in dieser Schlucht irgendwie ein Gefühl von Sicherheit. Man ist nie alleine, alle streben nach dem gleichen Ziel, immer kommt irgendwer nach. Es ist für alle ganz klar, wo es hingeht, keiner fühlt sich verloren. Auch gibt es auf dem Weg genug Wasser, dafür wurde mit einigen Brunnen am Weg gesorgt. Es liegt überhaupt kein Müll herum – die Nationalparkwächter kümmern sich um das Ausleeren der zahlreichen Mistkübel am Weg. Alles in Allem ist es ein Erleben wilder Natur von Menschen für Menschen begehbar und erlebbar gemacht. Gepaart mit dem Gefühl von Sicherheit ist auch ein Gefühl von Vorhersagbarkeit – immer wieder kommen Schilder, die genau anzeigen, wie weit man schon gekommen ist und wie lange es noch zu gehen ist. Wir erlebten also Gefühle von Sicherheit und Vorhersagbarkeit, so schien es zumindest, und der Schein, also das rational Vorgestellte, war mächtig.
Aber warum Schein? Ich kam nicht daran vorbei, ebenfalls ein Gefühl der Irritation in dieser vorgestellten Sicherheit und Vorhersagbarkeit zu empfinden. Was irritierte mich? Es war der Weg selbst. Abermillionen von Menschen müssen diesen Weg schon gegangen sein. Man könnte sogar darüber philosophieren, inwieweit es sich um das Erleben von Natur oder doch eher Kultur handelt. Kultur deshalb, weil die Steine, über die man Schritt für Schritt geht, ihre Natürlichkeit schon längst verloren haben. Wie sagte es unser Landlord: „Be aware, the rocks are polished from the many people and extremely slippery!“ Ja, so war es auch, die Steine waren sehr abgeschliffen von den vielen Schuhen, die über sie gegangen sind, an manchen Stellen waren sie gar blank poliert. Sie haben ihre Struktur und Körnigkeit völlig verloren.
Dies hatte zur Folge, dass die größte Gefahr, der wir in dieser Schlucht ausgesetzt waren, ein mögliches Ausrutschen auf einem der blank polierten Steine war. Stetig mussten wir auf unsere Schritte achten – blieb einmal unser Blick länger nach oben hängen, so rutschen wir schon aus. Auch sahen wir einige andere auf diese Weise stürzen. Wie paradox, dachte ich bei mir. Ein so gut ausgebauter Weg, gesichert und quasi jeder Schritt vorgegeben, von so vielen Menschen erfolgreich begangen und doch, in Wahrheit, gefährlich. Wir erinnerten uns an unsere Wege in den österreichischen Bergen, an jene, die wenig begangen sind. Ihr Boden hat Struktur und uns begegnet manchmal keine Menschenseele auf diesen Pfaden, aber sie bereiten Gripp, sind frisch und noch nicht ausgelaufen.
Diese Qualität hat etwas Besonderes. Ich sehe sie als Metapher für unsere Psyche und die Herangehensweise an das Leben. Es zeigt sich, dass auch viel begangene Wege Gefahr in sich bergen – eben WEIL sie so viel begangen sind! Neue, weniger gesicherte Wege machen manchmal auch Angst, selbstverständlich, sie können jedoch am Ende manchmal mehr Halt bieten als ewig abgetretene. Dies hat uns die Schlucht von Samaria eindrucksvoll gezeigt.