Was ist Hochsensibilität?

Was ist Hochsensibilität?

Was ist Hochsensibilität? 150 150 Psychotherapie für Erwachsene

Derzeit ist der Begriff „Hochsensibilität“ in allerlei Münder. Es kommen immer wieder Leute zu mir in die Praxis, die sagen: „Ich habe von Hochsensibilität gehört. Ich erkenne mich darin total wieder. Und seitdem ich weiß, dass ich das habe, bin ich irgendwie erleichtert. Gleichzeitig aber überfordert es mich, dass ich hochsensibel bin! Ich möchte besser damit klar kommen!“

Doch was ist Hochsensibilität eigentlich? Hochsensibilität bedeutet zunächst einmal, dass das Nervensystem Informationen anders verarbeitet: Es reagiert stärker auf Reize (auf Geräusche, Gerüche, Stimmungen und vieles mehr), weil es diese besser überträgt – es gibt mehr Neurotransmitter (Botenstoffe zwischen den Nervenzellen). Besonders faszinierend finde ich, dass diese Art der Reizwahrnehmung und –verarbeitung schon im Tierreich vorkommt – mit der gleichen Prozentzahl wie bei Menschen. Ungefähr 10 – 15 % der Menschen verfügen über ein hochsensibles Nervensystem – und bei den Fruchtfliegen ist das nicht anders! Auch dort gibt es Individuen, die früher auf Reize reagieren – und auch bei den Bonobos, eine Schimpansenart, können 10 – 15 % der Individuen durch ihre Hochsensibilität Gefahren rascher wahrnehmen.

Hochsensibilität ist also keine psychische Krankheit und kein „Krankheitssymptom“ – sie ist ein biologisches Merkmal, quasi eine Charaktereigenschaft, die angeboren ist. Auch früher kannte man das Phänomen – so schrieb z.B. Carl Gustav Jung, ein Psychoanalytiker, von „sehr sensiblen Menschen“. Durch die amerikanische Psychologin Elaine Aron bekam das Phänomen in den 90er Jahren einen „Fachbegriff“ – nämlich „Hochsensibilität“ oder auch „Vielfühler“, „Hochsensitivität“ oder kurz „HSP“ (highly sensitive person).

Meiner Meinung nach ist es wichtig zu verstehen, dass Hochsensibilität ein Gesamtpaket ist, welches Vorteile und Nachteile in sich birgt – und dass Hochsensible oft erst lernen müssen, die Vorteile gut für sich zu nutzen und die Nachteile „in Schach zu halten“. Wie gesagt, hochsensible Menschen nehmen mit ihren Sinnen eine größere Zahl an Informationen vom Umfeld auf – vereinfacht gesagt, sie hören mehr, riechen mehr, sehen mehr usw. Der Nachteil davon ist, dass einige Reize schlecht ausgeblendet werden können. Als Konsequenz nehmen Hochsensible viel mehr Eindrücke auf, als ihnen gut tut – und sind dann oft reizüberflutet. Daraus kann sich Gereiztheit, Müdigkeit, Überforderung und Ängstlichkeit ergeben.

Zusammengefasst kann man sagen, dass es drei Nachteile, also Schwachstellen, gibt, die jede HSP betrifft und mit denen es gut umzugehen gilt: Selbstmanagement, verminderter Selbstwert und Schwierigkeiten im Umgang mit Kritik. Zum Selbstmanagement ist zu sagen, dass HSP oft eher erfühlen, was andere brauchen und nicht, was sie selbst brauchen. Die bessere Wahrnehmung von Reizen richtet sich nämlich nicht nur auf Riechen, Hören, Schmecken etc., sondern auch auf die Wahrnehmung von zwischenmenschlichen Stimmungen und das, was andere ausstrahlen. Da sie intuitiv ersprüen, was andere fühlen und brauchen, richten sich auch eher nach anderen. Dadurch stellen sie jedoch oft eigene Gefühle und Bedürfnisse zurück und überfordern sich dabei – die Konsequenz ist dann oft Erschöpfung und erhöhte Anspannung wie Nervosität.

Die zweite Schwachstelle betrifft den verminderten Selbstwert: Sie spüren oft, dass sie „anders“ sind oder es die anderen scheinbar „irgendwie leichter“ haben und können sich nicht erklären, warum. Sie merken, dass sie nicht immer bei allem mitmachen können, weil es ihnen zu viel ist (zum Beispiel nach der Arbeit noch auf ein Bier in das laute Lokal gehen) und dass sie sich mehr Sorgen um allerlei Dinge machen, die andere scheinbar nicht zu bekümmern scheinen („Weltschmerz“, aber auch Sorgen um Angehörige etc). Und dieser verminderte Selbstwert hat oftmals seine Wurzeln schon tiefer in der Kindheit: HSP haben meist schon als Kinder gehört, dass sie „Sensibelchen“ (im negativen Sinne!) sind, dass sie Stimmungsschwankungen haben, empfindlich und launisch sind, „sich nicht so anstellen sollen“, „die Zähne zusammenbeißen sollen“ usw. Schon als Kinder merken sie also, dass irgendetwas an ihnen nicht ganz in Ordnung sind und sie anders sein sollen. Als Konsequenz passen sich hochsensible Kinder oft an, stellen eigene Wünsche in den Hintergrund und achten mehr darauf, dass es den anderen gut geht.

Die dritte Schwachstelle ist der schwierige Umgang mit Kritik. Hochsensible Menschen nehmen sich Dinge mehr zu Herzen als andere Menschen und schenken den Meinungen anderer oft mehr Glauben – dies steht in unmittelbarem Zusammenhang zum verminderten Selbstwert. Auch möchten sie, da ihnen die zwischenmenschliche Stimmung sehr wichtig ist, weitgehend in Harmonie mit anderen leben – Kritik stört das Harmoniebedürfnis der HSP. Hinzu kommt, dass sich HSP öfters die Schuld selbst geben und sich stärker schämen, wenn sie kritisiert werden.

Neben diesen drei Archillesfersen der hochsensitiven Menschen gibt es jedoch auch viele Vorteile. Dadurch, dass HSP mehr Reize wahrnehmen und Eindrücke intensiver aufnehmen, fühlen sie oft eine tiefe Verbundenheit, mit dem, was sie gerade berührt und anspricht. So können sie zum Beispiel im Wald plötzlich durch die Schönheit der großen Bäume und der friedlichen Atmosphäre ganz gefesselt sein oder bei einem Musikstück ob der emotionalen Tiefe der Klänge in Tränen ausbrechen. Generell haben HSP mehr „Gespür“ für Formen, Farben und Ästhetik. Und wie schon erwähnt, können HSP Stimmungen und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen sehr viel feiner wahrnehmen als andere und haben daher oft eine große Empathiefähigkeit. Des Weiteren haben sie ein Talent, vernetzt zu denken und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dingen herzustellen.

Doch diese „Vielfühlerei“ bringt noch etwas Bedeutsames mit sich: das dringende Bedürfnis nach Erholung, Ruhe und eine Minimalisierung der Reize. Während sich andere Menschen in großer Gesellschaft, auf Parties und in lauten Lokalen vom Alltag eine Auszeit nehmen, ziehen sich HSP eher zurück, schotten sich ab und möchten „zu sich kommen“. Sie brauchen diese Ruhe, um die Fülle an Informationen gut verarbeiten zu können. Wenn dies nicht geschieht, dann kommen sie leicht in die Überlastung und Überforderung, in Stress, Unsicherheit und Ängstlichkeit. Hochsensible Menschen stehen daher vor der großen Herausforderung, stets gut auf ihre Grenzen zu achten, sich Pausen im Rückzug zu gönnen (was im hohen Selbstanspruch nach Leistung oftmals schwierig ist!) und ihre eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen. Hochsensibilität kann ein großes Geschenk sein – man muss nur lernen, gut damit umzugehen.

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